Das Spiel Moro

 


Omphalos ist eine geheimnisvolle Stadt mit einer uralten Geschichte, die zwar oft vergessen wird, aber immer lebendig bleibt und bis heute das Schicksal ihrer Bewohner bestimmt, auch wenn diese nichts davon wissen. Eng mit der Geschichte von Omphalos verknüpft ist zum Beispiel das Spiel Moro. 

Es gibt kaum einen Bürger von Omphalos, der Moro nicht kennt, besitzt oder spielt. Alljährlich findet am 5. Mai ein großer Moro-Wettkampf statt, bei dem die Teilnehmer beweisen können, wie gut sie das ganze Jahr über geübt haben. Traditionell erhält der Gewinner einen goldenen Schlüssel als Preis. Warum ein Schlüssel? Warum der 5. Mai? Warum ein Titel, der an Tod und Mauern erinnert? Und warum überhaupt ein Spiel wie Moro? 

Um diese Fragen zu klären, müssen wir weit zurückreisen, bis ins Mittelalter, in das Jahr 555, in das Erste Goldene Zeitalter (522 – 577 n.Chr.). Omphalos war damals vollständig wieder aufgebaut, nachdem es – wie immer in regelmäßigen Abständen – zerstört worden war. (Die Details zu den ganzen Zerstörungen und Neuerrichtungen von Omphalos mag man in der 2.500-seitigen „Omphalischen Chronik“ nachlesen.) 

Jetzt, nach dem Wiederaufbau, war Omphalos aufgeblüht, die Bürger lebten in Gesundheit und Wohlstand, die Weisen erforschten die Geheimnisse des Universums und die Richter waren vernünftig und gütig. Die Umgebung um Omphalos war reich an Tieren, Früchten und vor allem Getreide, weswegen die Gegenden um Omphalos zumeist Goldgrund genannt wurden – und das Königreich selbst das Goldene Königreich. 

Diese goldene Zeit müssen wir wohl seinem König aus dem ehrenwerten Haus der Leuwinger zuschreiben. Dieser König, dessen wahren Namen wir nicht kennen, hatte viele Beinamen. Manche nannten ihn „König Wahnsinn“: Das Volk erklärte ihn für verrückt, weil er weder Macht noch Geld anhäufen wollte, sondern Bücher. Eine riesige Bibliothek ließ er errichten und mit 5.000 Büchern ausstatten. Deshalb nannte ihn das Volk auch „König Gutreich“: Er war reich an wichtigen Gütern, nämlich Weisheit, außerdem reich an Gutem, reich an Güte. 

Leider zu gut. An den Grenzen seines Reiches befanden sich damals vier Königreiche, die mit Neid und Gier auf sein goldenes Land blickten. Der Nordkönig, ein brutaler Mann, der den Beinamen „König der Finsternis“ trug, wollte das Goldene Land angreifen und unterwerfen. Gemeinsam mit dem Ost-, West- und Südreich verschwor er sich gegen König Gutreich. 

Das Südreich, das von dem weisen und gütigen Himmelskönig regiert wurde, wollte eigentlich keinen Krieg führen, doch der finstere König ließ den Thronerben entführen und zwang dadurch den Himmelskönig zur Teilnahme am Krieg. Der mächtige Osten und der winzige Westen hingegen hatten überhaupt nichts gegen einen Krieg: Der Osten wollte seine Viehzucht ausweiten, der Westen seine wenigen Wälder. 

So kam es, dass die vier Königreiche am 5. 5. des Jahres 555 dem Goldenen Königreich den Krieg erklärten, den spätere Historiker den „Krieg der fünf Könige“ nennen würden. 

Für König Gutreich, der an das Gute im Menschen glaubte, kam das völlig überraschend. Während die vier Könige seine Grenzen übertraten und das Land verwüsteten, schickte der gute König Boten zu ihnen, um mit ihnen zu verhandeln. Er glaubte an eine friedliche Lösung. Ein paar Tage später kamen seine Boten zurück: Ihre Köpfe lagen auf Silbertabletts. Von da an nannten die meisten ihren König nur noch König Wurm, weil er so weich und wehrlos wie ein Wurm sei. 

Tausende von Flüchtlingen strömten nach Omphalos und wurden aufgenommen. Zum Glück hatte König Gutreich in seiner großen Weisheit große Vorräte für Zeiten der Not anlegen lassen: So musste niemand hungern oder dürsten. Doch die vier Armeen rückten immer näher und standen schon bald an den Toren der Stadt. Sofort errichteten sie Wälle, hoben Gräben aus, stellten Wurfmaschinen auf und brachten ihre Eroberungsgerätschaften in Position. Tag für Tag prasselten Angriffe auf Omphalos ein: Steine flogen in die Stadt und verwüsteten die Häuser und Straßen, brennende Pfeile erhellten den Himmel bei Nacht und die Bibliothek, der ganze Stolz des Königs Gutreich, brannte bis auf die Grundmauern ab. 

König Gutreich verbarrikadierte sich mit seinen Ratgebern fünf Tage im Königssaal, um einen Plan zu schmieden. Waffengewalt lehnte er ab, er hasste den Krieg – nicht durch das Schwert wollte er siegen, sondern durch die Weisheit. Nicht grundlos wurde der gute König später auch König Rotfuchs oder König Siegfried genannt – denn der schlaue Fuchs hatte schon bald einen Plan geschmiedet, um einen friedlichen Sieg zu erlangen. 

Es wurde nach Hieronymus Arkana geschickt, damals noch Spielzeugmacher, später der Hofalchemist, von dem bekannt war, dass er sich neben dem Erfinden, Malen, Schreiben und Rätsel stellen besonders gut auf das Mischen von Tränken verstand. Schon bald war der Schlosshof angefüllt mit großen Fässern, in denen eine grünliche, bitter riechende Flüssigkeit schwappte. Es herrschte reges Treiben, Holz wurde angeschleppt und lange Seile und sehr viel Stoff, ganze Bahnen von festem Leinen. Aber wozu? Das wusste niemand so genau außer König Gutreich, seinen Ratgebern und Hieronymus Arkana. 

Als die Turmuhr elf schlug, war das Werk vollbracht. Im Schutze der Nacht wurden die Fässer und Gebilde, die man aus dem Holz, den Seilen und dem Stoff angefertigt hatte, von zweihundert fleißigen Händen auf den höchsten Turm des Schlosses hochgetragen. Die Anwesenden wussten nicht, wozu das gut sein sollte – was waren das für merkwürdige Maschinen und wozu dienten sie? 

Die Erklärung folgte auf dem Fuße, als zwölf Soldaten an die Maschinen traten, sich daran festschnallten, Anlauf nahmen und – zum Schrecken der Anwesenden – von den Zinnen sprangen. Doch der Schreck wich bald Erleichterung und dann einem leisen Jubel, denn es zeigte sich, dass die Maschinen Gleiter waren. Einträchtig schwebten sie wie Vögel nebeneinander, über die Mauern der Stadt hinweg. Bald schon trennten sich ihre Wege: Jeweils drei Gleiter flogen nach Norden, Süden, Osten und Westen, auf die vier Feindeslager zu, und landeten dort im Schutz der mondlosen Nacht. 

Am nächsten Tag hörte Omphalos wie jeden Morgen das Horn, welches die feindlichen Soldaten wecken sollte: Ein finsterer, angsterregender Ton für den Nordkönig, ein glockenklingender für den Himmelskönig, ein grunzender für den Westen, ein muhender für den Osten. 

Darauf folgte Stille. Kein Geräusch ertönte mehr von den feindlichen Lagern, kein Kettenrasseln, kein Schaben, kein Schreiten, kein Rufen. Omphalos lag im Schimmer der Sonne und glänzte friedlich, während keine Steine über die Mauer flogen, keine brennenden Pfeile auf die Dächer herabregneten, keine Rammböcke die Tore krümmten. 

„Ein Wunder“, murmelten die Menschen, „Oder die Ruhe vor dem Sturm.“ 

Wie erstaunt waren sie, als die Soldaten des Königs Gutreich nun durch die Straßen zogen und mir nichts, dir nichts einfach die Stadttore öffneten, um hinaus zu marschieren. Die Bewohner der Stadt tuschelten angstvoll, der offene Kampf, so dachten sie, stünde bevor. Doch als die Soldaten unbehelligt bis vor die feindlichen Lager rückten, beruhigten sich die Bewohner und schöpften neue Hoffnung. Staunend sahen sie dabei zu, wie ihre Soldaten ins Feindeslager strömten und dort ein heimliches Werk verrichteten. 

Bald schon wurden Wagen sichtbar, vor die Ochsen und starke Gäule gespannt waren, und die von den Soldaten in die Stadt geführt wurden. Sie waren beladen mit Kleidung, Rüstungsteilen, Schwertern, Lanzen und allerlei anderem Zeug. All das wurde in die Stadt gebracht und die Tore wurden wieder verschlossen. 

Es war alles so gelaufen, wie König Gutreich es geplant hatte. Die grüne, bitter riechende Flüssigkeit war ein starkes Schlafmittel gewesen – wenige Tropfen reichten aus, um ein Pferd ins Reich der Träume zu schicken. Die Soldaten auf den Gleitern hatten dieses Schlafmittel in die feindlichen Lager mitgenommen und es dort in alle Getränke gemischt, auf alle Lebensmittel geträufelt. Wen wundert es da, dass die feindlichen Armeen morgens aufstanden, um zu essen, aber nach dem Frühstück zu Boden sanken und schliefen? So konnte die omphalische Armee ohne Probleme einmarschieren, die Kriegsmaschinerie zerstören und den Soldaten alles stehlen, was zur Kriegsführung benötigt wird – einschließlich ihrer Kleidung. 

Als die Soldaten zur Abendzeit langsam erwachten, war die Scham groß. Sie waren nackt! Splitterfasernackt! Und dazu auch noch all ihrer Waffen beraubt! Der König der Finsternis tobte und wütete, doch was sollte er tun? Ohne Waffen kämpft es sich schlecht und so nackt, wie er war, wollte er niemanden herumkommandieren. 

So schrieb er rasch einen Brief, in dem er seinen Rückzug erklärte, versiegelte ihn und schickte einen Boten zu König Gutreich – nicht völlig nackt, sondern mit einer Zeltplane umwickelt. An diesem Tag herrschte eitel Freude in Omphalos, die Kriegsbeute wurde aufgeteilt, die Vorratskammern wurden geplündert und König Gutreich, umjubelt von seinem Volk, gepriesen als Rotfuchs und Siegfried, konnte sich endlich auf seinem Nachttopf niederlassen und sich erleichtern, denn der Krieg hatte ihm eine heftige Verstopfung beschert. 

Was geschehen war, sollte nie wieder vergessen werden, damit es sich niemals mehr wiederholen konnte. Deshalb ließ König Gutreich Gedenkstatuen errichten und Geschichtsbücher schreiben, die in den Schulen gelesen werden sollten. 

Doch als die Jahre vergingen, verblasste die Erinnerung an den Krieg der Fünf immer mehr. Als König Gutreich eine Schule besuchte und die Kinder nach der Geschichte ihrer Stadt befragte, wussten sie so gut wie nichts. Sie waren faul, diese Kinder, beschwerten sich nur den lieben langen Tag über die Schule und wollten nichts lernen – aber die Schule verlassen und etwas arbeiten, das war ihnen auch nicht recht. Viel lieber spielten sie irgendwelche Karten- und Würfelspiele, und das den ganzen Tag. 

Doch auch die Erwachsenen waren nicht besser. Als König Gutreich eines frühen Morgens durch die nebligen Gassen ritt, sah er einen Mann, der mit heruntergezogener Hose an einer Gedenkstatue hockte und dort sein Geschäft verrichtete. 

„Warum kackt Ihr meine Statue an, werter Herr?“, fragte König Gutreich freundlich. 

„Eine Statue? Ach ja, in der Tat, mein König, eine Statue – oder ein Klosett, wie man es eben sehen will.“ 

„Wisst Ihr denn nicht, welche Bedeutung diese Statue hat?“ 

Der Mann kackte einfach weiter. 

„Entschuldigt, dass ich einfach weiterkacke“, sagte der Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht, „Aber der Bohneneintopf meiner Frau lockert die Eingeweide. Für mich hat diese Statue eine große Bedeutung, denn wo sonst sollte ich mein großes Werk verrichten?“ 

„Diese Statue steht aber für ein großes Ereignis.“ 

„Nicht so groß wie meines“, keuchte der Mann und pupste so laut wie ein Schießgewehr. 

König Gutreich war verzweifelt darüber, dass so viel wichtiges Wissen einfach verloren ging. Er setzte sich mit seinen Ratgebern zusammen und erwartete ihren weisen Rat. 

„Damit die Leute lernen, müssen wir sie dafür bezahlen“, sagte einer. 

„Wir müssen sie zwingen, notfalls mit Waffengewalt“, sagte ein anderer. 

„Wir könnten ihnen ihre Kinder wegnehmen und den Kindern das Wissen eintrichtern – und die Eltern bekommen sie nur zurück, wenn sie ebenfalls lernen.“ 

„Wer ist jetzt der größte Narr?“, kicherte auf einmal jemand. Alle Ratgeber drehten sich unwillig nach dem Jemand um. Es war Glock Glock, der Hofnarr des Königs, in seinem bunten Flickengewand mit den Glöckchen und seinem schiefen, spöttischen Grinsen im Gesicht. 

„Ihr seid Narren“, fuhr der Hofnarr fort und hüpfte lustig umher wie ein verrücktes Hühnchen, „Und ich bin weise. Und wie spricht der Weise zu den Narren? Wie ein Narr, denn sonst hören sie nicht zu.“ 

„Du sprichst närrisch“, sagte König Gutreich, aber er war nachdenklich dabei, „Sprich, Hofnarr, wie würdest du die Erinnerung an die Schlacht der Fünf aufrechterhalten?“ 

„Erlaubt mir, König der Narren, Euch eine Geschichte zu erzählen.“ 

„Nicht schon wieder eine Geschichte“, stöhnten die Ratgeber, aber König Gutreich befahl ihnen zu schweigen, denn als weiser Mann liebte er Geschichten mit einem wahren Kern. 

„Der Mystiker Papus berichtet, dass das Alte Ägyptische Reich einstmals kurz vor der Zerstörung stand. Das jahrtausendealte Wissen der Ägypter wäre auf einen Schlag vernichtet gewesen. Also setzten sich die Weisen zusammen und berieten sich. Das Wissen in die Wände der Pyramiden meißeln? Keine gute Idee, denn keine Mauer von Menschenhand erbaut hält ewig. Das Wissen den Weisesten der Weisen anvertrauen? Eine schlechte Idee, denn Menschen sterben und Weise werden zu Narren. 

Da hatte einer von ihnen eine glorreiche Idee – er war übrigens ein Vorfahre von mir, so wie alle meine Vorfahren immer schon sehr weise waren. Er sagte, man solle das Wissen der einen Sache anvertrauen, die niemals ausstirbt, die ewig und unsterblich ist…“ 

„Und was wäre das?“, fragten die Ratgeber wie eine Horde kleiner Kinder. 

„Das menschliche Laster natürlich, die Fehler der Menschheit, ihre größte Sucht, Freude und Vollendung: das Spielen. Und so entstand das erste Kartenspiel der Welt: Das Tarot, ein Kartenspiel voll mit der altägyptischen Weisheit, voll magischer Symbole und symbolischer Magie… Und während die Pyramiden verfielen, die Weisen starben oder närrisch wurden, verbreitete sich das Tarot über die Kneipen, Spielhöllen und Wahrsagerräumchen über die gesamte Welt und bewahrte die Weisheit Ägyptens…“ 

„Das ist doch nur eine Geschichte, was sollen wir damit?“, sagte einer der Ratgeber empört, „Und was soll überhaupt Tarot sein? Wir haben noch nie davon gehört!“ 

„Es entsteht ja auch erst um 1418“, sagte der Hofnarr und zwinkerte schelmisch. 

„Du redest Unsinn“, sagte König Gutreich, „Ich denke nicht, dass wir ein so bedeutsames Ereignis einem so unbedeutenden Boten anvertrauen sollten.“ 

„Aber bedenkt die Vorteile, mein Herr“, sagte Glock Glock, „Hört doch nur einmal die folgende Geschichte…“ 

„Na toll, noch mehr Geschichten“, stöhnten die Ratgeber. 

„Der Legende nach war Cheung Leung, der chinesische Machthaber, in einen langen, harten Krieg verwickelt, der alles Gold seines Landes verschlang. Eine Steuer nach der nächsten mussten seine Untertanen entrichten, bis Cheung Leung merkte: Ein Esel, dem man alles Stroh wegnimmt, tritt irgendwann aus gegen den Herrn. Und so kam diesem weisen Herrscher die Idee zu einem Spiel namens Keno. Wer dabei mitmachen wollte, musste Geld zahlen, und siehe da: Der Esel hatte doch noch Stroh versteckt und gab es her, aber freiwillig. 

Stellt euch doch nur einmal vor, mein König, wieviel Geld ihr einnehmen könntet, wenn ihr die Spiele verkauft und in regelmäßigen Abständen Wettbewerbe veranstalten lasst! Der Krieg der Fünf wird niemals vergessen werden und Ihr, mein König, Ihr baut das Land und die Bibliothek wieder auf mit seinem eigenen Gold!“ 

„Du redest Unsinn“, sagte König Gutreich, „aber sinnigen Unsinn. Hofnarr, geh zu Hieronymus Arkana in der Spielemachergasse und lass ihn dieses Spiel erfinden, drucken und verkaufen. Und hiermit verkündige ich auch, dass jedes Jahr… aber schreibe du das doch auf, mein lieber Hofnarr, ich werde es dann später dem Volke verkünden.“ 

 

Genauso kam es auch. Binnen weniger Jahre nahm das Königreich mit dem Moro-Spiel und den Moro-Wettkämpfen so viel Geld ein, dass die Bibliothek neu errichtet und mit über 8.000 Büchern ausgestattet werden konnte. Von Omphalos aus verbreitete sich das Spiel bald über die ganze Welt. 

Auch wenn die Menschen während des Spiels gerne den ernsten Hintergrund vergessen, spätestens bei den Wettkämpfen werden sie durch den Hofnarren wieder daran erinnert, wovon dieses Spiel handelt: Von den menschlichen Leidenschaften, von Neid und Gier und Machtgelüsten, die die Menschheit ins Dunkel stürzen – und von den wenigen aufrechten Helden, die sich dem Dunkel entgegenstellen und es am Ende besiegen. 

 

Valerie Card