Leseprobe
(Prolog - Kapitel 1 - Kapitel 2)
Prolog
Es war so kalt, dass Eisrosen an dem kleinen Fenster wuchsen. Aus Venatas Mund strömten kleine Kältewolken. Es hätte sie nicht gewundert, wenn es Schneeflocken gewesen wären. Dabei saß sie in ihrem Zimmer, in dieser viel zu kleinen Abstellkammer mit schwarzen Steinwänden, die verdeckt wurden von Regalen mit Zauberbüchern und Putzmitteln. Ein Bett passte hier nicht mehr rein, nur ein kleiner Strohhaufen mit alten Laken drauf.
Sie hatte die löchrigen Decken um sich herumgewickelt und las in einem Zauberbuch. So viele merkwürdige Zeichen… und so schwer zu verstehen. Venata war überhaupt nicht gut darin. Wenn sie das eine Symbol gelernt hatte, hatte sie das andere schon wieder vergessen. Sie weinte ein bisschen, aber das half natürlich nicht weiter.
Die Finger ihrer rechten Hand betasteten ihren silbernen Anhänger, aber sie spürten ihn nicht. Es war kein besonders schöner Schmuck, nur eine einfache, silberne Kugel an einer schwarzen Kette, aber sie war das Wertvollste, was Venata besaß. Das einzige Geschenk ihres lieblosen Vaters… Ihr Glücksbringer… Ihr Trost… Ihr einziger Freund…
Als sie auf die Silberkugel herabblickte, liefen ihre Finger bereits bläulich an. Sie hob beide Hände an den Mund und pustete hinein, aber das half nicht viel. Also nahm sie einen Wischmopp und einen Eimer zur Hand – Zeit für ihre tägliche Putzrunde. Vielleicht würde ihr ja dann ein wenig wärmer werden.
Doch dazu kam es nicht, denn auf einmal hörte sie Stimmen. Körperlose Klänge, die aus den Wänden drangen, die zischten und zischelten wie Schlangen. „Venata… Venata… Dein Meister ruft dich… Schnell… Zum Thron des Meisters…“
Obwohl es so kalt war, begann Venata sofort zu schwitzen. Mehr noch als sonst versank ihr Kopf zwischen den Schultern. Der Meister rief… Sofort ließ sie Wischmopp und Eimer fallen, strich ihre schwarze Kleidung glatt und trat in einen dunklen Gang hinaus. Auch hier bestanden die Wände aus schwarzem Stein. Die wenigen Fackeln glänzten darauf wie Sterne in einem finsteren Ozean…
Während Venata zügig voranschritt, zog sie eine Spur aus Atemwolken hinter sich her. Frierend rieb sie ihre Arme, aber das half nicht, und die hässliche schwarze Kutte wärmte überhaupt nicht. Warum musste hier auch alles so schwarz und trostlos sein? Ein gelber Pullover wäre schön, vielleicht rote Socken und ein Schal, blau mit goldenen Sternen… Aber dafür war Tartaros, die finstere Festung, nicht der richtige Ort…
Als zu ihrer Linken ein Fensterspalt auftauchte, erblickte sie das Eis, das die Festung umgab. Erfrorenes Wasser, so weit das Auge reichte, riesige Gletscher, in denen sich die Dunkelheit des Himmels spiegelte…
Eine gefühlte Ewigkeit schritt Venata Treppen hinunter. Sie hatte panische Angst, ihr Herz wummerte, wie immer, wenn sie ihrem Meister gegenübertreten sollte. Immer tiefer in die Erde hinab führten die Treppen, bis Venata schließlich vor einer pechschwarzen Tür angelangte. Rote Adern schienen sich durch den Stein zu ziehen. Hier roch alles muffig und tot, die Luft fühlte sich feucht an. Trotzdem wuchs nirgendwo eine Pflanze, keine Flechte, kein Moos, kein einziger Pilz.
Nur ein eisblauer Käfer hockte reglos an der Wand und schien sie zu beobachten.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Venatas bleiche Finger drückten gegen die Tür, die langsam aufschwang und den Blick freigab auf eine dunkle Kammer. Ein pechschwarzer Steintisch stand darin, umgeben von dreizehn Steinstühlen. Auf jedem von ihnen ein eingraviertes Zeichen – unverständlich wie Hieroglyphen, jedes davon finster und unheilschwanger. Von Venata unbemerkt begann der Eiskäfer sich zu bewegen. Er krabbelte vorsichtig näher an die Tür, doch so, dass er von innen nicht gesehen werden konnte.
„Komm her.“
Venata zuckte zusammen. Diese Stimme… sie war honigsüß, aber wie das Knarren eines Sargdeckels, der sich langsam öffnet. Auf einmal waren all ihre Muskeln völlig gelähmt – sie wollte nicht da rein! Nur ihre Hand bewegte sich noch und befühlte die Silberkugel unter ihrer Kutte.
„Komm her, sag ich!“
Wieder zuckte Venata, stolperte in den Raum hinein und blickte scheu auf den größten der Steinstühle. Der Eiskäfer krabbelte auf dem Türrahmen näher heran und ließ seine Fühler zucken. In tiefe Dunkelheit war der Steinthron getaucht. Venata näherte sich, ein bisschen bucklig, ihr Kopf tief zwischen die Schultern geklemmt. Ihre dünnen Finger verknoteten sich wie ein Haufen ängstlicher Würmer.
Jetzt bewegte sich auf dem Thron ein Schatten und ein Augenpaar leuchtete auf – gelbe Augen wie die eines Tiers, gefühllos und grausam, aber hypnotisch wie ein Strudel. Kurz blitzte ein Gegenstand in der Hand des Schattens auf – sofort straffte sich Venatas Hals, ihre Hände entknoteten sich, fielen herab und baumelten schlaff in der Luft. Sie hatte auf einmal das Gefühl, eine Marionette zu sein, die an hundert Fäden hängt. Ihr Kopf fühlte sich leicht an, er war aus Zuckerwatte, er war ein Luftballon, der in die sonnige Höhe flog…
„Venata…“
„Ja, Meister?“, sagte sie träge.
„Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust…“
„Ja, Meister.“
„Braves Kind… Dein Vater Haruspiz ist in letzter Zeit widerspenstig. Er verrät mir nichts mehr über die Prophezeiungen. Ich möchte, dass du zu deinem Vater gehst und ihn fragst, wer Volands Stuhl einnehmen wird. Würdest du das für mich tun, meine Liebe?“
„Ja, Meister.“
„Braves Kind…“
Der Schatten schloss seine gelben Augen. Ein Blitz leuchtete zwischen seinen Händen auf. Sofort ruckte Venatas Kopf wieder zwischen die Schultern, ihre bleichen Hände verknoteten sich über der schwarzen Kutte.
„Meister?“, fragte sie in den Raum hinein. Doch nur der Klang ihrer eigenen, zaghaften Stimme schallte durch das Gewölbe, wurde zu einem so tiefen und dunklen Echo, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten.
Ich sollte meinen Vater besuchen, dachte Venata plötzlich. Komisch… Sie hatte längere Zeit nicht mehr an ihn gedacht, sie hatte gute Gründe, ihn nicht zu besuchen, aber plötzlich hatte sie große Lust, ihn zu sehen und mit ihm zu reden und Fragen zu stellen… besonders über die Prophezeiungen.
Venata machte kehrt und verschwand in einem der Tunnel. Leise breitete der blaue Käfer seine Flügel aus und flog lautlos auf ihren Rücken. Mit seinen scharfen Greifzangen verkrallte er sich im Stoff ihres Oberteils. Nur seine zuckenden Fühler verrieten die Aufregung, die ihn erfasst hatte…
Zielstrebig huschte Venata durch die unterirdischen Gänge, die ihr Zuhause waren und die sie doch hasste wie die Pest. Unbewusst berührte sie immer wieder die Silberkugel, als könnte sie daraus neuen Mut schöpfen. Sie durchquerte Tropfsteinhöhlen, an deren Decke Fledermäuse raschelten, auf deren Grund dunkle Flüsse rauschten. Es wurde schließlich so kalt, dass sie ihre Fingerspitzen nicht mehr spürte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, rieb sie an ihren Armen und ging schneller. Trotzdem dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis Venata an einem Tor aus schwarzem Stein stehen blieb, das in den Fels eingelassen war.
Sie schaute sich um, ob jemand da wäre, dann murmelte sie einige fremdartige Worte und schrieb mit den Fingern Zeichen in die Luft. Der Käfer krabbelte näher an ihre Schulter, doch sie sprach so leise, dass er nichts verstehen konnte. Kaum hatte sie geendet, leuchteten die roten Adern des Steins auf und das Tor schmolz wie Eis im Sommer, verlief sich in der Erde und gab den Eingang zu einem Tunnel frei.
Venata trat hinein. Sofort gluckerte es hinter ihr, das Tor schoss wie Wasser aus der Erde empor und verdichtete sich wieder zu Stein. Doch es wurde nicht dunkel – die Wände des Gangs leuchteten in rötlichem Schein, als ginge Venata in einer menschlichen Ader, durch die das Sonnenlicht strahlt. Sie glaubte sogar einen Herzschlag zu spüren, ein dunkles, tiefes Pochen, als würde ein Ungeheuer aus der Tiefe zu ihr heraufsteigen…
Sicher nur Einbildung, versuchte sich Venata zu beruhigen. Trotzdem zitterte sie, während sie durch den rötlich schimmernden Tunnel schritt. Seine Wände schienen hauchdünn, wie eine Haut oder eine Membran – und Schatten bewegten sich dahinter, kleine, große, gigantische – schienen sich an die Wand zu drücken, um Venata näherzukommen…
Es dauerte nicht lange und sie stand vor einem Tor aus purem Gold. In der Mitte befand sich ein Türknauf, um den sich goldene Schlangen wanden. Wortwörtlich – obwohl sie aus Metall bestanden, schlängelten die Reptilien umher und zischten angriffslustig, bereit ihre Giftzähne in Venatas Hand zu versenken, wenn sie diese nach dem Knauf ausstreckte.
Diesmal murmelte sie keine Worte, zeichnete sie keine Zeichen in die Luft, sondern sie zog einen feinen, silbernen Dolch aus ihrer Tasche. Rasch stach sie in ihre Handfläche, sodass etwas Blut hervorquoll – die Schlangen zischelten aufgeregt – Venata berührte sie mit ihrem Dolch – die Schlangen tobten – fauchten – schnappten – und schlossen langsam ihre Augen, wurden leise und bewegungslos, bis Venata gefahrlos den Knauf des goldenen Tors umdrehen konnte.
Geräuschlos schwang es nach innen auf und enthüllte einen weiten, kuppelförmigen Raum, dessen Wände aus hunderten von schmalen Säulen bestanden. Auf dem Boden befand sich ein grell leuchtender Kreis, mit hunderten von magischen Zeichen beschriftet, die ebenfalls leuchteten, so hell, dass sie Haruspiz in der Mitte kaum erkennen konnte.
Staunend und mit zugekniffenen Augen blinzelte Venata in die gleißend helle Vision, die über Haruspiz schwebte. Es war ein Baby, ein riesiges Baby so groß wie ein Haus, aber es war aus schwarzem Stein, von roten Adern durchzogen, das Gesicht zu einem hässlichen Weinen verzerrt. Wütend schlug es um sich, stieß mit der Riesenfaust nach Haruspiz, aber sie ging einfach durch ihn hindurch.
Mit donnernder Stimme rief er einen Befehl. Auf einmal wurde das Baby ein alter Mann mit weißem Bart und Königskrone, in der Hand eine golden leuchtende Weltkugel, nein, eine Rose, eine wunderschöne, glänzende, perfekte Rose…
„Bei Maleficias finsterem Kristall, wer stört?“, donnerte eine tiefe, grollende Stimme.
„I-Ich… Venata…“
„Du? Belästige mich nicht und scher dich zurück zu deinem Herrchen!“
Mit einer befehlenden Bewegung seiner Hand brachte Haruspiz das Leuchten des Zauberkreises zum Erlöschen. Die Vision löste sich in Rauch auf. Jetzt erst erkannte Venata ihren Vater deutlich, unverändert wie eh und je: Immer noch der blutrote Mantel mit den schwarzen Zaubersymbolen, immer noch die stechend grünen Augen mit dem blitzenden Blick, die weißen, wild abstehenden Haare um Kopf und Kinnpartie. So abschätzig und unwillig sah er sie an, dass sie wie immer Widerstand in sich wachsen fühlte.
„Deine Haare sehen wirr aus“, sagte sie, „Kämmst du dich nie?“
„Bin ich ein Modepüppchen wie du?“, knurrte er zurück, „Mich interessiert nicht mein Haar, sondern das darunter – das Hirn, falls du überhaupt weißt, was das sein soll und wie man es benutzt…“
Venata wurde puterrot, aber sie gab nicht nach.
„Ich wollte mit dir über die Prophezeiungen reden – nichts weiter.“
„Warum? Damit du sie dann deinem geliebten Herrn und Meister verraten kannst?“
„Das ist doch der Vertrag…“
„Der Vertrag besagt, dass du seine Schülerin bist, um die Geheimnisse der Zauberei und Alchemie an mich weiterzugeben. Und? Wo sind sie? Was weißt du Neues?“
„Ich… Es ist sehr schwierig… Die Zeichen sind kompliziert und… Ich brauch noch Zeit.“
Haruspiz sah sie abschätzig an.
„Ich hätte deine jüngere Schwester behalten sollen und nicht dich. Du bist zu nichts nütze, eine Schande für das Haus des Steins.“
„Ich krieg das noch hin!“, rief Venata verzweifelt, „Bald lern ich sicher was Neues und das bring ich dir dann und…“
„Spar dir die Mühe. Wenn ich keine Geheimnisse bekomme, bekommt ihr keine Antworten. Das Nostradamicum ist nicht für Narren wie euch erschaffen worden…“
Venata schielte auf das Buch, das hinter Haruspiz auf einem Holzpult lag. Er drehte sich um und sah das Nostradamicum mit einer Mischung aus Liebe und Hass, Leidenschaft und Überdruss an. Das Buch hatte nachtblaue Seiten, auf denen goldene Symbole sich bewegten wie Feenstaub oder Sternschnuppen, immer hin und her, in verschlungenen Schnörkeln, die Venata nicht deuten konnte. Obwohl es drei Meter von ihr entfernt war, spürte sie sofort seine Macht: Energiegeladene Wellen gingen von ihm aus und brandeten durch den Raum, kraftvolle Lawinen aus anderen Dimensionen, die der Mensch nur schattenhaft erkennen kann…
„Ja, das Nostradamicum“, murmelte Haruspiz andächtig, „Liebe meines Lebens, aber niederträchtig und untreu wie deine Mutter… Seit Jahrhunderten erforsche ich es, und doch konnte ich bisher nur die erste Seite deuten – die erste Seite von tausenden, von Millionen. Und permanent schreibt es sich weiter, und immer wieder tauchen neue Prophezeiungen auf, verwirrend und verworren, in geheime Worte gekleidet, deren Sinn ich nur erahnen kann…“
Er grinste böse und wandte sich wieder seiner Tochter zu.
„Was kann es schaden?“, sagte er, „Ich verrate dir gern, wer Volands Stuhl besteigen wird – immerhin ist die Botschaft verschlüsselt, dein Besitzer wird nichts damit anfangen können…“
Bei diesen Worten zuckte der blaue Käfer auf Venatas Rücken zusammen. Heimlich kletterte er noch ein bisschen höher, bis er direkt auf ihrer Schulter saß, so nah an ihrem Ohr, dass er jede Silbe hörte, die Haruspiz bedeutungsschwer aussprach:
Ein Kreis aus Kindern zum Viereck wird,
Das dich erfreut und oft verwirrt.
Den Thron des Träumers nur besteigt,
Sarolfs Blut, das zwiegeneigt.
Den Vater tötet das dunkle Kind,
Wenn blutleer seine Adern sind.
Der goldene Ritter wünscht die Sonne,
Zerstört die Welten voller Wonne.
Das Kind der Mitte entscheidet im Krieg
Mit schwachem Mittel über den Sieg.
Die Waage? Stürzt zur Finsternis!
ER steigt durch aller Welten Riss
Den Stamm hinauf des Baums
Zur Krone dieses Traums.
Wird Ragnaröks Sklave und Meister zugleich.
Versiegeln die Spinne wird einst sein Fleisch,
Das Kind von König und Königin,
Des Kartenschreibers Enkelin.
Das alles sieht die blinde Seherin,
Die die Fäden entwirrt zum wahren Sinn.
Die Rose wächst und färbt sich rot,
Denn ER ist das Leben und der Tod…
Der Käfer krabbelte noch ein wenig höher – doch im selben Moment schaute Haruspiz auf, entdeckte ihn und rief einige Worte. Sofort ging der Käfer in Flammen auf, sein zuckender Körper ein Funkenmeer…
„Bei Maleficias Kristall!“, rief Venata und wischte hektisch die rauchende Leiche von ihrer Schulter, „Willst du mich umbringen?“
„Du hast einen Spion mitgebracht!“, rief Haruspiz zornig, schrecklich anzusehen mit seinem blitzenden Blick, „Raus jetzt, verschwinde, du Missgeburt, bevor ich dein Schicksal neu schreibe! Komm wieder mit neuem Wissen oder ertränk dich im Fluss, mir ist es gleich!“
Haruspiz zeterte weiter, doch Venata hörte ihn schon nicht mehr, sie lief durch das goldene Tor davon, durch den rot leuchtenden Tunnel, die rechte Hand an ihrer Silberkugel. Wütend wischte sie die Tränen aus den Augen, die über ihre Wangen liefen. Wenn ihre Mutter noch da wäre…
Doch jetzt war keine Zeit zum Weinen. Denn auf einmal hatte sie den unwiderstehlichen Drang, ihren Meister zu suchen und ihm von der Prophezeiung zu erzählen…
Kapitel 1
Uralte Geheimnisse
Limus hätte gerne weitergeschlafen, aber das war bei diesem Krach völlig unmöglich. Obwohl das Fenster fest verschlossen war, hörte er ständig Gekreische, Gefiepe, Geschnarre, Geknurre, Gebrülle und Geflattere.
„Lasst mich doch ein einziges Mal ausschlafen“, knurrte er, zog sich das Kissen über den Kopf und presste es an seine Ohren. Aber jetzt begannen die Affen zu kreischen, so schrill und durchdringend, dass er das Kissen wütend Richtung Fenster schleuderte und aus dem Bett sprang.
Die schlammbraunen Haare zerstrubbelt, ein Speichelfaden im Mundwinkel, tappte er mit zugekniffenen Augen zum Fenster und öffnete es. Doch anstelle von erfrischender Morgenluft schwappte ihm nur ein strenger Geruch nach vergammeltem Stroh und Urin entgegen.
Seine Mitschüler mochten das ja toll finden, aber Limus hasste es, mitten in einem Zoo zu leben.
Keine drei Meter von seinem Fenster entfernt hüpften die Affen von Ast zu Ast und hockten sich mit ihren Äpfeln und Bananen in die Baumwipfel. Ein Elefant trompetete, ein anderer warf sich klatschend ins Wasser des Teichs. Der Eisbär brummte, der Löwe brüllte, die Robben fiepten. Nur das Faultier war still und tat genau das, was Limus gerne getan hätte: Es hing kopfüber von einem Ast und schlief tief und fest.
Limus zog sich an, wobei er unwillkürlich über das Muttermal auf seiner Brust strich. Das einzig Interessante an ihm, wie er sich selbst oft sagte, denn es hatte die Form einer Krone.
Wie jeden Morgen griff Limus nach ein paar Kieselsteinen, die er abends auf die Fensterbank legte, und bewarf die Affen damit. Seit drei Tagen ärgerte er am liebsten ein großes Schimpansenmännchen, das gerade friedlich seine Blätter mampfte. Limus zielte, schoss und traf es mitten auf die Brust. Doch anstatt wegzulaufen, sprang der Affe diesmal auf und schimpfte wütend.
Limus lachte bloß und schleuderte so lange weiter, bis er keine Steine mehr übrig hatte. Der Affe warf noch ein paarmal die Arme in die Luft, das Gesicht wutverzerrt. Erst als die Steingeschosse aufhörten, schlug er sich ins Gebüsch, ohrfeigte einen kleinen Affen, der an ihm vorbeiging, und mampfte seine Blätter weiter.
„Wie langweilig…“, murmelte Limus und ließ seinen Kopf in die Arme sinken. Von hier aus konnte er seine Mutter sehen, die in einem Gehege die Pandabären fütterte. Sein Vater schob gerade eine Schubkarre voll Mist in Richtung einer Statue. Sarolf de Valléedarc. Der Gründer dieses Zoos und Limus´ Vorfahre. Davon einmal abgesehen, dass der schwarze Stein wie von roten Adern durchzogen und mit merkwürdigen Zeichen beschriftet war, war auch diese Statue absolut langweilig…
Gelangweilt von seiner Langeweile ließ Limus den Blick nach unten in das Affengehege wandern.
Im gleichen Moment lief es ihm eiskalt den Rücken runter.
In dem Gehege stand ein Mann.
Als wäre es das Normalste der Welt, stand er zwischen den Affen und schaute zu Limus hoch. Seine ganze Kleidung war schwarz, die Schuhe, die Hose, der lange Mantel, alles schwarz. Dafür waren seine Augen stechend gelb. Der Blick dieser gelben Punkte war so intensiv, dass Limus schwindlig wurde. Er konnte nicht wegsehen, er war wie gefesselt.
Der Fremde lächelte und zog etwas aus seiner Tasche heraus, ein glänzendes Etwas, das Limus nicht genau erkennen konnte. Es schien ein Glas zu sein, in dem sich etwas bewegte. Der Mann kniete sich hin und kippte das Glas mit einer raschen Bewegung aus. Kurz glaubte Limus, ein kleines Tier herauslaufen zu sehen, doch als er kurz blinzelte, war das Ding verschwunden – genau wie der Mann.
Sein Herz pochte schrecklich schnell, als er das Fenster schloss und von ihm zurückwich.
„Was zur Hölle…“, murmelte Limus, „Träum ich noch…?“
Seine Angst kam ihm so unbegründet und völlig lächerlich vor, dass er sich sofort deswegen schämte. Mit raschen Schritten ging er zurück zum Fenster und öffnete es weit. Wie erwartet sah er niemanden im Affengehege: Keinen Mann, kein Glas, kein Ding, das aus dem Glas lief. Nur sein Vater stand hinten an der schwarzen Statue des Sarolf und winkte zu ihm herüber. Limus tat so, als sähe er ihn nicht, und schloss das Fenster wieder.
„Nur eine Halluzination“, sagte er. Unschlüssig blickte er in seinem Zimmer umher, an dessen Wänden Plakate mit Totenschädeln, Friedhöfen und Zombies hingen. Limus liebte das Dunkle, aber noch mehr liebte er es, seine Eltern damit zu verwirren und zu verärgern. Aber in letzter Zeit schienen sie sich von diesen Plakaten nicht mehr provozieren zu lassen – vielleicht sollte er etwas noch Schlimmeres aufhängen.
Limus ging rüber zu seinem Terrarium. Auf den ersten Blick befanden sich darin nur Brombeerzweige. Auf den zweiten hatten die Zweige Beine, sie krabbelten umher und fraßen Blätter. Es waren Stabheuschrecken, die wie lange Stöcke über die langen Stöcke staksten. Limus füllte ihnen Wasser nach und piekste sie ein bisschen, aber sie glitten bloß träge von Ast zu Ast.
Limus ging in die Küche hinunter und fand wie erwartet nur die leeren Teller seiner Eltern vor. Er räumte das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, packte Brot, Butter und Marmelade in die Regale und den Kühlschrank. Dann schnappte er sich zwei Brotscheiben, schlang die eine schnell runter und brachte die andere dem Papageien.
Jeden Morgen versuchte Limus, dem Papagei Schimpfwörter beizubringen, aber ohne Erfolg. Es war ein schöner, blaugefiederter Papagei, aber er wollte weder Brot essen noch Schimpfwörter lernen. Limus kitzelte ihn an seinen scharfen Krallen, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Wenn ich solche Krallen hätte, dachte Limus, würd ich mir jetzt damit ins Gesicht fliegen und die Augen auskratzen.
„Na, komm, greif mich an, verletz mich…“, lockte Limus. Aber der Papagei schaute an ihm vorbei auf das Fenster und krächzte leise. Genervt schaute Limus ebenfalls hin – und sah gerade noch, wie sich hinter der Fensterscheibe ein kleines Wesen duckte.
Limus´ Herz begann wieder schneller zu schlagen. Dieses Ding vor dem Fenster… Er war sich nicht sicher, aber er hätte wetten können… Allerdings war das schlecht möglich. Aber für einen kurzen Moment hatte es so ausgesehen, als ob dieses Ding ein kleiner Mensch wäre… Ein Zwerg mit Armen wie Streichhölzer und einem Kopf so groß wie eine Münze…
Vielleicht ein deformiertes Tier? Nachdenklich mümmelte Limus an der zweiten Brotscheibe und überlegte, ob ihn das Ding genug interessierte, um das Fenster zu öffnen und nachzusehen, als er in dem Zimmer über sich ein leises Tappen hörte. Angestrengt lauschend versuchte Limus, das Geräusch einzuordnen. Jetzt klackerte es auch noch, als würden Murmeln über den Boden rollen. Und immer noch tappte es leise, als gingen sehr kleine Füße über die Holzdielen…
Vielleicht ein Vogel, der aus einer der Volieren entkommen war? Letztes Jahr war einer der Adler aus dem Käfig entflogen und hatte Limus´ ganzes Zimmer verschissen. Das sollte nicht wieder passieren! Limus nahm einen Regenschirm aus dem Hausflur mit, hielt ihn wie ein Schwert vor sich und schlich so leise wie möglich nach oben.
Sofort fiel ihm auf, dass seine Zimmertür nicht wie sonst angelehnt war, sondern weit offenstand. Mehr noch, der ganze Boden war mit blauen Flecken beschmutzt. Limus stürmte in sein Zimmer und schaute sich rasch darin um. Kein Vogel zu sehen. Allerdings stand das Fenster jetzt weit offen und das Tintenfass, das irgendeine blöde Tante ihm geschenkt hatte, war umgekippt. Von dem großen, blauen Tintenteich, der sich auf dem Teppich sammelte, führten Flecken weg – nein, nicht Flecken, sondern Spuren.
Als Limus sich vorbeugte, um sie genauer zu untersuchen, wurde ihm eiskalt. Das war definitiv kein Vogel gewesen: An der Oberseite eines länglichen Ovals saßen stets fünf kleine Punkte. Es handelte sich um einen Fußabdruck mit fünf kleinen Zehen – von zwei winzig kleinen Menschenfüßen!
Limus fasste den Regenschirm fester, schlag- und kampfbereit, und folgte den Spuren. An der Zimmertür bogen sie nach rechts ab, den Flur hinunter, an dessen Ende sich eine schmale, knarrende Treppe befand. Die Treppe zum Dachboden. An der ersten Stufe angelangt, sah Limus sofort, dass auch die Speichertür weit offenstand. Jetzt hörte er wieder das leise Tappen, aber auch Geraschel und Geknister, als würde jemand den Speicher durchsuchen.
„Na warte…“, zischte Limus, hielt den Schirm wie eine Lanze vor sich und versuchte, so leise wie möglich die dunkle Treppe hochzusteigen. Aber die Stufen knarrten und knarzten so laut, dass er schließlich stehen bleiben musste. Der Eindringling schien sich durch seine Anwesenheit nicht stören zu lassen – immer noch raschelte und knisterte es. Ein langgezogenes Reißen von Papier ertönte – dann war alles still.
Limus wagte kaum mehr zu atmen, alle seine Sinne waren angespannt. Rasch stieg er die letzten Stufen hoch und lugte in den Speicher hinein. Einige Lichtstrahlen fielen durch die staubigen Fenster, der Rest des Raums war in Dämmerlicht gehüllt. Die blauen Spuren verschwanden zwischen einer Reihe von Kisten und sperrigen Möbelstücken, die mit fleckigen Laken bedeckt waren.
Die Augen weit aufgerissen, schlich Limus den Spuren nach. Er hörte jedes Geräusch: Das Knacken des Holzes, wenn er drauftrat, das Ächzen der Dachbalken, sogar das Rieseln des Staubs. Doch ansonsten war es völlig still…
Als Limus sich zwischen zwei hohen Kartonstapeln hindurchgezwängt hatte, stand er in einem Kreis aus Kisten, Papierbündeln, Möbeln und ausgestopften Tieren. Ein toter Iltis bleckte die Zähne, eine staubige Katze fauchte ihn an. Limus ignorierte die toten Tiere und ging zu einem annähernd viereckigen Stapel, dessen Laken runtergerutscht und blau verschmiert waren.
„Mal schauen, was du dir da ansehen wolltest…“, murmelte Limus, legte den Regenschirm beiseite und zog die Laken weg. Als der Staub aufwirbelte, hustete er kurz und kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, sah er einen schräg angelehnten Stapel von Gemälden, alle mit goldenen, verzierten Rahmen.
Es dauerte eine Weile, bis Limus die Person auf dem ersten Porträt erkannte, aber dann fiel es ihm wie Schuppen vor Augen: Das musste sein Vorfahre sein. Auf dem Bild sah Sarolf de Valléedarc sehr viel furchteinflößender aus als die Statue. Das lag wohl daran, dass seine Augen tiefschwarz glänzten, dass er ein langes, blutiges Buschmesser in der Hand hielt und dass die Wand hinter ihm mit Tierköpfen geschmückt war. Die Vermutung lag nahe, dass er all diese Tiere selbst getötet hatte.
„Wie sympathisch…“, murmelte Limus und schob seinen Vorfahren beiseite, um sich die Bilder dahinter anzusehen.
Beinahe wären ihm die schweren Leinwände aus der Hand gerutscht, so erschrocken war er. Denn dieses Gesicht kannte er gut. Vorsichtig senkte er die anderen Gemälde auf den Boden und betrachtete den Mann, den er heute Morgen im Affengehege gesehen hatte. Diesmal war er nicht schwarz gekleidet, sondern er trug reichverzierte Gewänder aus vergangenen Zeiten, gefertigt aus teuren Pelzen und kostbaren Stoffen. Im Hintergrund konnte Limus eine Art Jahrmarkt erkennen und einen Hinrichtungsplatz, an dessen Galgen ein paar arme Seelen baumelten.
Doch am auffälligsten in dem Bild, alles andere überstrahlend, waren die stechend gelben Augen. Limus spürte einen Sog, der von ihnen ausging, dem er sich nicht entziehen konnte. Wieder wurde ihm schwindlig und er glaubte Worte zu hören, deren Sinn er nicht verstand, formuliert in einer fremdartigen, bedrohlichen Sprache…
„Ja…“, murmelte Limus und fühlte sich plötzlich sehr schläfrig, „Ja, das sollte ich tun… Den Spuren folgen… Eine gute Idee…“
Wie ein Traumwandler, ohne Angst und ohne Überlegung, ging Limus den blauen Klecksen nach. Hindernisse schubste er achtlos beiseite. Als er sich das Knie an einem metallenen Nähtisch stieß, reagierte er nicht darauf.
Erst als er vor einer Wand stehenblieb, kam er wieder zu Bewusstsein. Verwirrt schüttelte er den Kopf und betrachtete die Wand. Sie war nicht, wie erwartet, aus Steinen zusammengefügt, sondern war tapeziert mit einem hässlichen, dunkelgrünen Papier. Limus kniete sich hin, um die Spuren zu betrachten: Sie führten direkt zur Wand… Nein, nicht zur Wand, sondern in die Wand!
Ein Stück Tapete lag auf dem Boden, jemand hatte es abgerissen – dahinter befand sich kein Stein, sondern der untere Rand einer Tür.
„Endlich etwas Interessantes“, grinste Limus, „Mein Tag ist gerettet!“
Mit Feuereifer zerfetzte er die Tapete, bis die ganze Tür freigelegt war. Es war keine besonders auffällige Tür: Sie war aus ganz normalem Holz gefertigt, ein schönes, hellgelbes, freundliches Holz. Trotzdem bekam Limus eine Gänsehaut: Ein modriger Geruch drang aus den Holzritzen hervor, eine feuchte Luft, die uralt und irgendwie gefährlich roch.
Limus´ Instinkt riet ihm dazu, die Tür augenblicklich mit Kartons zuzustellen und sie einfach zu vergessen. Doch der Gedanke daran, wie langweilig und leer sein Tag dann sein würde, ließ ihn die Tür aufstoßen. Mit einem unangenehmen Quietschen ihrer verrosteten Angeln schwang sie nach innen auf und enthüllte eine schwarze Treppe, die in die Dunkelheit hinunterführte.
Vorsichtig stieg Limus die ersten Stufen hinunter. Er konnte kaum unterscheiden, wo eine Stufe begann und die andere endete, weil der Stein pechschwarz war. Limus bückte sich, um ihn genauer zu betrachten. Rote Adern zogen sich durch den Stein… Wie bei Sarolfs Statue... Auch in diesen Stein waren Symbole eingeritzt, die er noch nie gesehen hatte. Aber da ihn Zeichen und Buchstaben nicht nur in der Schule langweilten, ging er schnell weiter.
Es war völlig still, nur der Hall seiner Schritte war zu hören. Es war schluchtenfinster und bösekalt. Wie in Trance setzte Limus einen Fuß nach dem anderen, völlig blind und orientierungslos. Als er sich kurz umdrehte, konnte er nicht einmal mehr das Licht der Tür sehen. Die Luft wurde immer dicker, das Atmen fiel ihm immer schwerer – und dann war da noch dieser Geruch, der ihm Angst machte, dieser ekelerregende, irgendwie süßliche, irgendwie beißende Geruch, als würde irgendetwas verfaulen…
Nach einer gefühlten Ewigkeit stolperte Limus plötzlich – es waren keine Stufen mehr da. Mit pochendem Herzen bückte Limus sich und erfühlte seine Umgebung. Unter ihm befand sich glatter Stein. Langsam tastete Limus sich weiter nach vorne, bis seine Hand an eine Wand stieß. Zumindest dachte er, dass es eine Wand sei, doch als er sie mit beiden Händen befühlte, erkannte er, dass es sich um eine große Steinkiste handeln musste.
Mit einem Mal zuckte Limus zurück. Er mochte es sich bloß eingebildet haben, aber ihm war es so vorgekommen, als hätte der Stein mit ihm gesprochen. „Willkommen, Limus…“ Und der Stein – bebte er? Limus atmete ein paarmal tief ein und aus, dann legte er die Hände wieder auf den Stein. Tatsächlich – der Stein bebte leise, in unregelmäßigen Abständen – poch poch – poch poch – als würde ein riesiges Herz schlagen…
Im gleichen Moment fiel Limus auf, dass er immer besser sehen konnte. Überall um ihn herum war ein rötlicher Schein, der immer intensiver wurde. Auch unter Limus´ Händen begann es zu glühen. Erschrocken zog er sie zurück und erblickte zwei in den Stein eingeritzte Zeichen, die rot leuchteten. Als hätte seine Berührung sie zum Leben erweckt, flimmerten sie immer heller und heller, bis auch die Zeichen um sie herum rot zu leuchten begannen.
Den Mund halb geöffnet vor Staunen, sah Limus dabei zu, wie sich Formen aus der Dunkelheit zu schälen begannen. Schon bald sah er deutlich, dass er in einem hohen, kuppelförmigen Gewölbe stand, auf dessen Grund in regelmäßigen Abständen große Steinkisten standen – nein, keine Steinkisten, sondern Särge. Auf dem Deckel eines jeden Sargs lag eine steinerne Person, die Augen geschlossen, die Hände über der Brust gefaltet, umgeben von Gegenständen aus Stein, die Limus noch nie gesehen hatte.
Fasziniert näherte er sich einem der Särge und betrachtete die Steinfigur. Sie sah regelrecht lebendig aus. Es handelte sich um einen breit gebauten, muskulösen Mann, dessen Barthaare wild in alle Richtungen abstanden. Vom Knöchel bis zur Brust lag ein riesiger Schild auf ihm, mit Siegeln verziert. Besonders eines kam Limus merkwürdig vertraut vor. Er betrachtete es genauer, die drei Ringe, aus denen es gebildet war, die unlesbaren Zeichen, die sich in den Ringen verteilten…
Automatisch kamen ihm zwei Wörter in den Sinn, er wusste überhaupt nicht warum: „Sarolfs Blut…“ Er sprach die beiden Wörter laut aus, sodass sie hohl und gespenstisch durch das Grabgewölbe schallten. Die Zeichen leuchteten noch stärker, in einem furchterregenden Rot.
„Sarolfs Blut…“
Dann hörte Limus das Geräusch.
Es kam aus den Tiefen des Grabgewölbes. Es war ein Scharren wie von Metall auf Stein, wie von Krallen auf Knochen. Sofort spürte Limus, wie sich Panik in ihm ausbreitete. Das hier war ein magischer Ort, an dem vielleicht nicht alle Toten wirklich tot waren…
Doch aus irgendeinem Grund ging Limus in die Richtung dieses Geräuschs. Er fühlte sich hypnotisiert von den roten Zeichen, sie schienen mit ihm zu sprechen, sie zischelten ihm Befehle zu, die er nicht verstand – doch dass er tiefer in das Gewölbe gehen sollte, das sah er ein.
Und leise, sehr leise, hörte Limus ein Pochen, wie von einem riesigen Herzen, das im Stein schlug…
Limus kam erst wieder zu sich, als er am Ende des Gewölbes angekommen war. Er stand vor einer hohen Felsplatte, von der ihm ein starres, lebensechtes Steingesicht entgegenblickte, das er allzu gut kannte: Sarolf de Valléedarc. Die blicklosen Augen lagen in rötlichem Schatten, sie sahen kalt aus, grausam und mitleidlos.
Hinter dieser Platte musste seine Leiche liegen.
Limus spürte, wie Angst in ihm hochkroch. Was sollte er jetzt tun? Wieder hörte er das schabende Geräusch. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, wie ein fliehend flatternder Vogel: Das Geräusch kam aus dem Sarg. Schon wollte Limus sich umdrehen und weglaufen, als er eine kristallzarte Stimme aus dem Sarg hörte:
„Limus… Hallo Limus…“
Seine Augen weiteten sich, er erstarrte. Doch die Stimme redete weiter.
„Limus… Hab keine Angst… Mein Papa meint es gut mit dir… Komm, mach die Kiste auf… Mein Papa hat ein schönes Geschenk für dich…“
Papa?, dachte Limus verwirrt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es sich bei diesen hell klingenden Tönen um die Stimme eines Kindes handelte. Was hatte ein Kind hier unten zu suchen?
„Limus… Mach ruhig auf… Bitte… Papa wird wütend, wenn ich seinen Plan vermassle… Bitte, Limus, mach auf… Sonst bestraft Papa mich…“
Die Stimme hörte sich jetzt so traurig und zerbrechlich an, dass Limus nicht anders konnte, als sich gegen die schwere Steinplatte zu stemmen. Stoßweise schob er sie beiseite, Stück für Stück, bis das Grab zur Hälfte geöffnet war. Rasch warf Limus einen Blick hinein und konnte gerade noch einen winzigen Fuß erkennen, der an der Rückseite des Sargs durch einen Riss im Stein verschwand.
„Warte!“, rief Limus und schob sich nach vorne, um den Fuß festzuhalten – doch im gleichen Moment rieselten ein paar weiße Gegenstände auf ihn – Knochen, Rippen, Gebeine! Mit einem lauten Schrei fiel Limus nach hinten. Jetzt erst sah er den bleichen Schädel, der grinsend auf ihn hinunterblickte.
„Sarolf…“, murmelte Limus, rappelte sich auf und klopfte den Staub von seinem Hosenboden. Vorsichtig näherte er sich dem Skelett und betrachtete es. Es war offensichtlich nicht lebendig. Limus blickte zu den Füßen der Leiche, wo einige verstaubte Gegenstände lagen. Einige davon mussten Bücher sein, das interessierte Limus nicht, aber da, unter den vergilbten Blättern verborgen, lugte ein goldenes Metallstück hervor.
Gierig griff Limus danach, zog es heraus und betrachtete es aufmerksam.
Auf den ersten Blick sah das Objekt wie eine goldene Taschenuhr aus, doch dafür war es zu groß, zu schwer und zu merkwürdig aufgebaut. Seine Oberfläche setzte sich zusammen aus verschieden großen Metallstreifen, die sich zu einem verwirrenden Knäuel verschlangen. Auf jedem Streifen befanden sich Zeichen, sehr viele Zeichen, die Limus alle nicht kannte. In der Mitte sah es aus, als würden die Metallstreifen in einem tiefen, schwarzen Loch verschwinden, in dem sich verschiedene Ösen oder Knöpfe befanden, die an dünnen Metallstäben befestigt waren.
Doch merkwürdiger als diese scheinbar völlig sinnlose Anordnung von Goldstreifen war das Gefühl, das Limus beim Halten dieser Uhr verspürte. Sie schien richtiggehend elektrisiert, als wäre sie an hundert unsichtbare Stromquellen angeschlossen. Tausende von Fäden aus den Tiefen des Universums schienen in diesem kleinen Gegenstand zusammenzulaufen, Millionen von Kraftlinien, die dieser Uhr ihre geheime Macht einflößten…
Als Limus die Uhr umdrehte, sah er ein weiteres, großes Zeichen, das darin eingraviert war. Auch diesmal glaubte er seinen Sinn zu erahnen, einen uralten Sinn, versteckt in den Untiefen seines Gehirns – doch er verstand nicht, was ihm das Symbol sagen wollte…
Als er wieder auf das Gold blickte, aus dem die Uhr gefertigt war, grinste er und sagte in Richtung von Sarolfs Grab: „Wenn ich das Teil ins Internet stelle, kann ich sicher massig Geld abstauben – danke dir.“
„Gern geschehen“, sagte die Kinderstimme.
Erschrocken stolperte Limus nach hinten, packte die Uhr fester und rannte zurück zur Treppe…
Kapitel 2
Eisiges Abenteuer
In seinem Zimmer angekommen, verschloss Limus die Tür und setzte sich mit der Seelenuhr auf den immer noch tintenbefleckten Teppich. Doch er achtete nicht auf die Tinte, auch nicht auf die Tiere, die draußen in ihren Gehegen plapperten und brüllten. Eigentlich hatte er ein Foto von der Uhr machen und sie dann ins Netz stellen wollen, um sie schnellstmöglich zu verkaufen – aber eine ungewöhnlich starke Neugierde hielt ihn davon ab.
Hin und her wendete er die Uhr und fragte sich, zu welchem Zweck sie gebaut worden war. Bei näherem Hinsehen erkannte er an der Seite eine Reihe von Rädchen, außerdem eine Art Lupe. Je nachdem, welcher Streifen sich gerade unter der Lupe befand, wurde ein bestimmtes Zeichen vergrößert.
Neugierig drehte Limus an einigen Rädchen, sodass sich die Streifen wie Schlangen hin- und herwanden, bis sich schließlich ein Zeichen unter der Lupe befand, das ihm gut gefiel. Wie ein stolzes, starkes Tigerauge kam es ihm vor…
Im gleichen Moment leuchtet in der Mitte ein Knopf auf, in grünlich grellem Schimmer. Ohne darüber nachzudenken, drückt Limus darauf. Völlig unvorbereitet schießt ein schmerzhafter Stich durch seinen Finger, wie ein Stromschlag. Limus schreit auf, er will die Uhr loslassen, aber er kann sich nicht bewegen, ist völlig gelähmt, komplett erstarrt.
Mit schreckgeweiteten Augen sieht Limus zu, wie sich die Metallstreifen schneller und schneller drehen, wie sie immer heller und heller leuchten in einem unheimlichen Grün. Das Zimmer beginnt sich vor seinen Augen zu drehen und nicht nur das: Sein Körper scheint gleichzeitig zu schrumpfen und zu wachsen, er wird zusammengepresst und auseinandergezogen, bis es sich plötzlich so anfühlt, als würde er aus seinem Körper herausgerissen und an einen anderen Ort transportiert…
Als Limus die Augen wieder öffnete, sah er erst einmal nur Weiß – ein blendend helles, eiskaltes Weiß. Es fühlte sich beinahe so an, als blickte er gar nicht durch seine eigenen Augen, so als müsste er erst lernen, wie die Augen eingestellt werden müssen. Er blinzelte einige Male, bis seine Umgebung endlich schärfer wurde.
Er sah eine Art Berge, die weiß-bläulich leuchteten. Als er noch einmal blinzelte, wurden sie schärfer: Es waren Eisberge, riesige Gletscher. Er war ganz offensichtlich nicht mehr in seinem Zimmer, sondern inmitten einer Eiswüste – und Robben. Ja, soweit das Auge reichte, sah Limus Robben über Robben mit freundlichen Hundegesichtern, mit schwarzen, runden Augen und einem weißen, graugepunkteten Fell, das den langen, speckigen Körper bedeckte.
Zu seiner Rechten erblickte Limus ein großes Meer, in dem Eisschollen trieben und an dessen Ufer Robben entspannten, kuschelten, rauften und Fische fraßen. Die Luft war erfüllt von Klicklauten und Pfiffen, manchmal durchbrochen von einem tiefen Dröhnen oder einem wütenden Brüllen. Ein paar Babyrobben krochen an Limus vorbei und stupsten ihn spielerisch an.
Warum haben sie keine Angst vor mir?, fragte sich Limus.
Er versuchte, sich mit den Händen am Boden abzustützen und aufzustehen, aber sein Körper reagierte überhaupt nicht auf diesen Befehl. Limus drehte seinen Kopf hin und her, bis er einen Blick neben sich werfen konnte: Er sah ein weißes Fell mit grauen Punkten – eine Flosse rechts – eine Flosse links.
Er war kein Mensch mehr.
Er war eine Robbe.
Im ersten Moment wurde Limus panisch, er atmete schneller, paddelte mit den Flossen. Doch als er merkte, dass dadurch sein Robbenkörper immer unkontrollierter zuckte und die anderen Tiere nervös von ihm abrückten, zwang er sich zur Ruhe. Erst einmal ruhig atmen, dachte er, einfach ruhig atmen…
Es war offensichtlich, dass die Uhr ihn hierhin gebracht haben musste. So weit, so gut, aber wie sollte er jetzt zurück in seinen Körper kommen? Hoffnungsvoll wendete Limus den Kopf hin und her, auf der Suche nach der Uhr – aber sie war nirgends zu sehen. Hier gab es nur Robben und Eis, Eis und Robben…
Auf einmal setzte sich eine kleine Robbe direkt vor Limus und schaute ihn aufmerksam an. Sie hatte ein weiches Fell und ein Gesicht, das ständig zu lächeln schien. Sie stieß ein paar Töne aus, die sich vage wie Wörter anhörten. Limus hörte genauer hin und glaubte folgendes zu verstehen:
„Meer… schwimmen… komm…“
Unbehaglich blickte Limus in Richtung der weiten, dunkelblauen Wasserfläche, auf der dicke Eisschollen trieben. Das Meer musste eiskalt sein! Ohne darüber nachzudenken, öffnete Limus den Mund und sagte:
„Nein.“
Die Robbe sah kurz enttäuscht aus.
„Doch“, sagte sie schließlich, „Spaß…“
„Spaß? Meer… eiskalt…“
Bei dieser Antwort ließ sich die Robbe auf den Rücken fallen und rollte hin und her – und lachte. Sie lachte Limus aus, aber auf eine scherzhafte, freundliche Art und Weise.
„Du bist witzig“, kicherte sie, „Komm jetzt, das Meer ist wunderbar, die Fische schwimmen schnell – aber wir sind schneller!“
Leckere Fische, dachte Limus und spürte, wie sich der Speichel in seinem Mund sammelte. Er hatte tatsächlich Hunger, ein kleiner Happen konnte nicht schaden… Ohne weiter darüber nachzudenken, ahmte er die Bewegungen der kleinen Robbe nach, schob seinen speckigen Robbenkörper über die runden Steinkiesel und folgte dem kleinen Pelztier, das er aber bald aus den Augen verlor, als immer mehr Robben sich ihrer kleinen Badegesellschaft anschlossen und sich auf das Meer zubewegten.
Schon waren sie am Strand angekommen – nur kurz verspürte Limus Angst vor dem weiten, dunklen Meer – doch schon schlugen die Wellen über seinem Kopf zusammen und er versank im angenehm kühlen Ozean. Mit einem Schlag waren alle Geräusche der Oberfläche verschwunden und wurden ersetzt durch ein behagliches Rauschen.
Wie ein Baby im Mutterleib schwebte Limus entspannt und gelassen, den Geräuschen des Meeres lauschend, den Klicken und Pfiffen der anderen Robben, der Fischflossen, die aus allen Richtungen das Wasser klatschten, und der Walfische, die kilometerweit entfernt ihre Gesänge austauschten, langgezogene, tiefe Töne voller Glück und Trauer…
Prustend tauchte Limus wieder auf und lachte ausgelassen. Um ihn herum schwammen die anderen Robben und lachten ebenfalls, schlugen mit den Schwanzflossen, stießen Jubellaute aus und schüttelten ihre Hundeköpfe. Mit einem raschen Schlag seiner Schwanzflosse tauchte Limus wieder unter Wasser und folgte den anderen.
So ein Gefühl hatte er noch nie erlebt. Er fühlte sich frei wie ein Vogel, leicht wie eine Feder und gleichzeitig gehalten und sicher, geborgen in einem riesigen Bett aus Wasser. Über ihm glitzerte die Sonne, unter ihm dämmerten die schwarzen Tiefen, die von ihm entdeckt werden wollten, und um ihn herum schwammen seine Freunde und riefen sich gegenseitig ihre Fröhlichkeit zu.
Es dauerte nicht lange, bis Limus einen Fisch erblickte. Sofort überließ er sich den Instinkten seines Körpers und raste so schnell er konnte darauf zu. Der Fisch wich ihm aus, schwamm im Zickzack davon, schlängelte sich wie ein silbriger Blitz durch die Dunkelheit. Limus war wie berauscht, er achtete nicht mehr auf seine Umgebung, sein Körper war ein Pfeil, der konzentriert auf sein Ziel losschießt…
Als er den Fisch schon mit dem Mund berührte, erahnte er vor sich eine Bewegung: Ein gigantischer Schatten, ein riesiges Maul, das Aufblitzen scharfer Zähne. Im letzten Moment drehte Limus sich zur Seite ab, der riesige Schatten schoss an ihm vorbei und stieß einen langgezogenen Zorneslaut aus, der Limus durch Mark und Bein ging.
In der Ferne hörte er die anderen Robben schreien: „Hilfe! Hilfe! An den Strand! Killerwal! Strand! Killerwal!“
Bilder schossen durch Limus´ Kopf, Aufnahmen aus einer Tierdokumentation: Wie ein Killerwal eine Robbe aus dem Meer schleudert, das Maul mit den messerscharfen Zähnen um ihren Körper schließt und zubeißt…
Wieder eine Bewegung, diesmal unter Limus – er hechtete zur Seite, der Killerwal schoss an ihm vorbei. Heftig mit den Flossen schlagend schwamm er in Richtung des Strands, wie ein verängstigter Vogel, der vom Adler verfolgt wird… Er wusste nicht, wie schnell der Killerwal war, ob er ihn einholen würde, ob er…
Limus wurde nach oben gedrückt, er wurde aus dem Meer geschleudert, hoch in die Luft, wo er sich einmal um seine eigene Achse drehte, bis er auf das Meer hinunterblickte. Alles lief wie in Zeitlupe ab: Das Maul des Killerwals durchbrach die Wellen, eine glatte, glänzende Haut mit weißen und schwarzen Flächen. Das Maul öffnete sich, enthüllte erst die tödlichen Zähne, dann das Innere des Mundes, eine riesige, fleischige Zunge, eine tiefe, blutrote Speiseröhre, in die Limus hineinstürzen würde.
Jetzt spürte Limus, wie sein Flug langsamer wurde – wie er kurz in der Luft schwebte – wie er langsam, dann immer schneller hinunterfiel, mitten in das Maul hinein.
Nein!, dachte er und bewegte sich wild hin und her, er schlug mit all seinen Gliedmaßen um sich, und siehe da, er landete direkt auf dem Unterkiefer des Killerwals, stieß sich davon ab und glitt an dem spiegelglatten Körper des Raubfischs hinunter ins Wasser. Mit dem Mut der Verzweiflung drückte er sich mit der Schwanzflosse von dem Jäger weg und schwamm auf das Ufer los. Nur ein paar Meter waren es, dann landete er auf dem Strand, robbte verzweifelt weiter und weiter und drehte sich dann erst um.
Der Killerwal lag lauernd im Wasser, ein riesiges, schwarz-weißes Ungetier, das seinen Tod wollte. Die pechschwarzen Augen fixierten Limus, als würden sie überlegen, wie er doch noch erlegt werden könnte. Schaudernd wandte Limus sich ab und kroch tiefer in die Robbenherde hinein. Die Tiere schrien aufgeregt, sie zitterten, aber das war Limus egal. Er drückte sich an die pelzigen Leiber und spürte, wie er sich langsam wieder beruhigte.
Allerdings wunderte er sich, dass die Robben nicht ruhiger wurden. Der Killerwal konnte ihnen an Land ja gar nicht folgen.
Schließlich drehte Limus sich doch in Richtung Strand und hob den Kopf. Tatsächlich war der Killerwal verschwunden. Dafür lag jetzt ein Schiff vor Anker. Eine Gruppe von Männern hatte sich am Strand verteilt. Im ersten Moment dachte Limus, dass es Touristen wären. Aber wie sich bald zeigen sollte, waren sie das nicht.
Fünf Männer verteilten sich auf der ganzen Länge des Strandes, sodass sie zwischen den Robben und dem Meer standen. Die fünf hielten in jeder Hand einen Metallstab. Drei weitere Männer stellten sich vor diese Reihe. Sie hielten Hakapiks: Ein Holzstab, an dessen Ende eine längliche Metallspitze befestigt war, wie eine Spitzhacke.
Der Teppich aus Robben zitterte leise, als wüsste er, was jetzt passieren würde. Es war still bis auf das drohende Rauschen des Meeres und das leise Klicken und Pfeifen der Robben.
Dann, auf ein unsichtbares Zeichen hin, ließen die fünf Männer ihre Metallstäbe aufeinanderprallen. Schrill und misstönend knallten sie aufeinander und lösten Panik bei der Robbenherde aus. Schon hoben die drei Männer ihre Hakapiks in die Luft – ließen sie niedersausen – und versenkten die metallene Spitze in den Schädeln dreier Robben.
Als Limus das Blut spritzen sah, drehte er sich rasch um und drängte sich durch das Knäuel angstvoll schreiender Robben. Doch es war fast unmöglich durchzukommen: Schwanzflossen schlugen ihm ins Gesicht, Körper rollten sich auf ihn, Schnauzen stießen ihn an. Mit aller Gewalt drückte sich Limus an den Robben vorbei, biss sogar um sich, bis er schließlich einen großen Haufen Steine sah, zwischen denen sich eine Lücke befand – groß genug für seinen kleinen Robbenkörper.
Mit letzter Kraft drängte sich Limus an den anderen Robben vorbei und zwängte sich in die Lücke zwischen den Felsen.
Limus schlug das Herz bis zum Hals. Hinter sich hörte er das mitleidlose Hacken der Hakapiks, das grelle Klingen der Metallstäbe, das durchdringende Todesgeschrei der Robben. Über seinem Kopf kreisten bereits die Raubmöwen, die auf ihren Anteil Robbenfleisch warteten. Er würde hier namenlos und unerkannt sterben, durchbohrt von einem Hakapik, gehäutet mit einem scharfen Messer, seine Haut würde ein Mantel werden, sein Fleisch ein Festmahl für die Raubmöwen… Ein schmerzhafter, grausamer Tod erwartete ihn.
Ein Schatten bewegte sich über Limus.
Erschrocken blickte er nach oben, in Erwartung eines Hakapiks, der glänzend auf ihn heruntersausen würde. Aber es war nur eine braune Raubmöwe, die ihren Kopf durch einen Spalt in den Steinen steckte und ihn mit glänzend schwarzen Augen betrachtete. Ihr Kopf ruckte ein paarmal hin und her, dann öffnete sie ihren Schnabel und sagte:
„Du sitzt ganz schön in der Patsche, was?“
Limus Robbenaugen wurden noch größer, als sie schon waren.
„Du… du kannst reden?“
„Offensichtlich ja. Hast du das noch nicht rausgefunden? Hast die Gebrauchsanweisung wohl nicht so genau gelesen…“
„Wie… Welche Gebrauchsanweisung?“
Doch die Raubmöwe war damit beschäftigt, abwechselnd Limus und die Jäger zu beobachten. Sie schien über etwas nachzudenken.
„Weißt du was?“, sagte sie schließlich, „Dein Versteck ist gar nicht schlecht gewählt. Wenn ich es den Schlächtern nicht verrate, könntest du vielleicht sogar überleben…“
Eine eiskalte Hand legte sich um Limus´ Herz.
„Wenn… wenn du es nicht verrätst? Aber… du wirst doch nicht… du verrätst mich doch nicht, oder?“
Die Raubmöwe kicherte hässlich.
„Oh Limus, du bist so naiv…“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Ich kann es nicht glauben“, sagte die Möwe kopfschüttelnd, „dass er dich zum Nachfolger haben will. Wird wohl senil auf seine alten Tage... Hör mal, Limus, für wen hältst du mich eigentlich? Als ich vorhin Hunger hatte, hab ich ein kleines, süßes Pinguinbaby totgestochen und gefressen… Gestern hab ich als Egel Blut getrunken und als Wolf ein kleines Mädchen verspeist… Die Welt hat kein Mitleid und ich auch nicht. Na ja, egal, bringen wir´s hinter uns, ich sollte die Aufmerksamkeit der Jäger erregen…“
Mit einem Mal begann die Raubmöwe wie wild zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen, sie schoss in die Luft und stürzte wieder zu den Felsen hinunter, piekste Limus einmal mit ihrem Schnabel, flog wieder hoch und schrie und kreischte und krächzte. Nach einer Weile setzte sie sich wieder auf den Stein und schaute zu dem zitternden Limus hinunter.
„Sie haben mich gesehen und kommen“, sagte die Raubmöwe und putzte ihr Gefieder, als würde es sie nicht mehr interessieren, „Und falls sie dich doch nicht sehen sollten, helf ich ihnen noch mal auf die Sprünge… Vielleicht solltest du jetzt beten oder dein Leben vorüberziehen lassen oder so was…“
Das muss ein schlechter Traum sein, dachte Limus, nur ein schlechter Traum, ein Alptraum. Gleich wach ich auf und… und… Wieder hörte er das Knirschen von Knochen, die von Hakapiks zerschmettert wurden, wieder hörte er die Angst- und Todesschreie der Robben. Nein, es war zu echt, es war kein Traum – gleich würde er sterben.
Die Raubmöwe gähnte gelangweilt. Als Limus schon nahebei die Stimmen der Jäger hörte und wie sie sagten „Da hinter dem Felsen muss noch eine sein“, drängte sich die Möwe plötzlich durch den Spalt und schaute Limus direkt ins Gesicht.
„Sag mal, willst du dich eigentlich nicht wehren? Oder weglaufen oder so was?“
Aus Limus´ Kehle kam nur ein verängstigtes Gurgeln.
„Oh Mann“, seufzte die Raubmöwe, „Das macht alles überhaupt keinen Spaß. Unser Konkurrenzkampf hat nicht mal richtig begonnen und schon hab ich gesiegt…“
Sie schaute nachdenklich auf die Jäger, die jetzt nur noch drei Schritte von Limus´ Versteck entfernt waren. Nur noch zwei Schritte… nur noch einer…
„Denk intensiv an das Wort Mutabor“, rief die Möwe, zog den Kopf aus dem Spalt, breitete die Flügel aus und flog rasch davon.
„Hier ist eine!“, rief einer der Jäger, griff zwischen die Felsen und packte Limus an der Schwanzflosse. Heftig schlug er damit hin und her, bis der Jäger loslassen musste, doch schon kam einer von der anderen Seite und zog ihn so fest an seiner Vorderflosse, dass er sich an den Felsen aufschürfte.
Limus sah kurz zwei eisblaue Augen, die ihn kalt musterten, dann prallte er mit dem Rücken auf den spitzen Steinboden. Mit einem raschen Schritt stand der Jäger über ihm, den Hakapik schlagbereit erhoben. Schon sauste das funkelnde Metall herunter.
Mutabor!, dachte Limus panisch, Mutabor! Mutabor!
Ihm wurde schwindlig, alles drehte sich – der Hakapik war direkt über seiner Stirn – und gerade als seine Spitze Limus´ Schädel durchbrach und ein stechender Schmerz durch seinen Körper schoss, verließ seine Seele den Robbenkörper und kehrte in seinen eigenen zurück.
Sofort sprang Limus auf, er schrie und schrie, er konnte gar nicht mehr aufhören, er musste sich selbst den Mund zuhalten. Er war wieder in seinem Körper, in seinem Zimmer, draußen lärmten die Zootiere und Schritte kamen die Treppe hoch. Bestimmt seine Eltern! Limus atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Warum waren eigentlich so viele Gegenstände in seinem Zimmer umgefallen? Schnell stellte er den Schreibtischstuhl wieder gerade hin, tat den Wecker auf den Nachttisch, ein umgekipptes Kästchen daneben.
Gerade als er die letzten Bücher zurück ins Regal stellte, kam seine Mutter rein. Sie sah besorgt aus.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie, „Hier oben hat´s ständig geknallt und ich hab dich schreien gehört.“
„Seit wann interessiert dich, wie´s mir geht?“
Der besorgte Gesichtsausdruck wich einem verärgerten.
„Red keinen Unsinn. Musst du nicht eigentlich in der Schule sein?“
„Es ist Sonntag. Wenn´s dich interessieren würde, wüsstest du das.“
„Mit dir kann man einfach nicht reden“, schnappte seine Mutter und schlug wütend die Tür zu.
Limus ließ sich auf den Boden fallen und begann zu zittern. Vor ihm lag klein und scheinbar harmlos die Uhr, die ihm den ganzen Ärger eingebrockt hatte. Limus packte sie, eilte zu der Geheimtür auf dem Speicher, riss sie auf und warf die Uhr die Treppe hinunter. Mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung hörte er dem Kling, Kling, Kling ihres Sturzes zu.
Jetzt würde er einfach vergessen, was passiert war, und sein Leben weiterleben.